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15.12.2016 : Zuständigkeit nach der Dublin III-Verordnung bei faktisch geduldeter Einreise in einen Mitgliedstaat (Asylrecht)
Ra 2016/19/0303 und 0304 (EU 2016/0007 und 0008) vom 14. Dezember 2016, C-646/16 (16. Juli 2017)
Dieses Vorabentscheidungsersuchen wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 26. Juli 2017, C-646/16, beantwortet. Im fortgesetzten Verfahren hat der VwGH über die Angelegenheit mit Erkenntnis vom 20. September 2017, Ra 2016/19/0303 und 0304, entschieden.
Beim EuGH ist ein Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofes der Republik Slowenien anhängig (C-490/16). In diesem Verfahren geht es u.a. um die Frage, ob die Voraussetzung des "irregulären Grenzübertritts" nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung zu verneinen ist, wenn ein Mitgliedstaat den Grenzübertritt in sein Hoheitsgebiet hoheitlich und zum Zwecke der Durchreise in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union organisiert. Ausgangspunkt für das Vorabentscheidungsersuchen waren die zahlreichen über die "Balkanroute" erfolgten Grenzübertritte von Personen, die im Gebiet der EU Anträge auf internationalen Schutz stellen wollten.
Der VwGH hat aus Anlass zweier bei ihm anhängiger Revisionen im Sinne dieses Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofes der Republik Slowenien mehrere ergänzende Vorlagefragen zur Vorabentscheidung an den EuGH herangetragen, die darauf abzielen, die von mehreren Staaten an der "Balkanroute" geduldete Ein- und Durchreise von Schutzsuchenden nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin III-Verordnung rechtlich richtig einzuordnen. Im Vorlagebeschluss beantragt der VwGH auch die Behandlung des Vorabentscheidungsersuchens im beschleunigten Verfahren, um rasch Klarheit für die betroffenen Schutzsuchenden und die Behörden über die Zuständigkeit für die Behandlung der Asylanträge zu schaffen.
Die Vorlagefragen im Wortlaut:
- Ist für das Verständnis von Art. 2 lit. m, Art. 12 und Art. 13 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), im Weiteren kurz: Dublin III-Verordnung, auf andere Rechtsakte, zu denen die Dublin III-Verordnung Berührungspunkte aufweist, Bedacht zu nehmen oder ist diesen Bestimmungen eine davon losgelöste Bedeutung beizumessen?
- Für den Fall, dass die Bestimmungen der Dublin III-Verordnung losgelöst von anderen Rechtsakten zu interpretieren sind:
a) Ist unter den Voraussetzungen der Ausgangsfälle, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie in eine Zeit fallen, in der die nationalen Behörden der maßgeblich involvierten Staaten mit einer außergewöhnlich hohen Anzahl von Menschen, die die Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet verlangten, konfrontiert waren, die von einem Mitgliedstaat faktisch geduldete Einreise in sein Hoheitsgebiet, die allein dem Zweck der Durchreise durch eben diesen Mitgliedstaat und der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat dienen sollte, als "Visum" im Sinn des Art. 2 lit. m und des Art. 12 Dublin III-Verordnung anzusehen?
Wenn Frage 2.a) zu bejahen ist:b) Ist im Hinblick auf die faktische Duldung der Einreise zum Zweck der Durchreise davon auszugehen, dass das "Visum" mit der Ausreise aus dem betreffenden Mitgliedstaat seine Gültigkeit verloren hat?
c) Ist im Hinblick auf die faktische Duldung der Einreise zum Zweck der Durchreise davon auszugehen, dass das "Visum" immer noch gültig ist, wenn die Ausreise aus dem betreffenden Mitgliedstaat noch nicht erfolgt ist, oder verliert das "Visum" ungeachtet der unterbliebenen Ausreise seine Gültigkeit zu jenem Zeitpunkt, in dem ein Antragsteller sein Vorhaben, in einen anderen Mitgliedstaat reisen zu wollen, endgültig aufgibt?
d) Führt die Aufgabe des Vorhabens durch den Antragsteller, in den ursprünglich als Ziel ins Auge gefassten Mitgliedstaat reisen zu wollen, dazu, dass im Sinn des Art. 12 Abs. 5 Dublin III-Verordnung von der Vornahme einer betrügerischen Handlung nach Ausstellung des "Visums" zu sprechen ist, sodass der das "Visum" ausstellende Mitgliedstaat nicht zuständig ist?
Wenn Frage 2.a) zu verneinen ist:
e) Ist die in Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung enthaltene Wendung "aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat" so zu verstehen, dass unter den angeführten besonderen Voraussetzungen der Ausgangsfälle ein illegales Überschreiten der Außengrenze als nicht gegeben anzusehen ist? - Für den Fall, dass die Bestimmungen der Dublin III-Verordnung unter Bedachtnahme auf andere Rechtsakte zu interpretieren sind:
a) Ist für die Beurteilung, ob im Sinn des Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung ein "illegales Überschreiten" der Grenze vorliegt, besonders darauf Bedacht zu nehmen, ob nach dem Schengener Grenzkodex - insbesondere nach dem für die Ausgangsfälle infolge des Einreisezeitpunktes maßgeblichen Art. 5 der Verordnung (EG) 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen - die Einreisevoraussetzungen gegeben sind?
Falls die Frage 3.a) zu verneinen ist:
b) Auf welche Bestimmungen des Unionsrechts ist bei der Beurteilung, ob im Sinn des Art.13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung ein "illegales Überschreiten" der Grenze vorliegt, besonders Bedacht zu nehmen?
Falls die Frage 3.a) zu bejahen ist:
c) Ist unter den Voraussetzungen der Ausgangsfälle, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie in eine Zeit fallen, in der die nationalen Behörden der maßgeblich involvierten Staaten mit einer außergewöhnlich hohen Anzahl von Menschen, die die Durchreise durch ihr Hoheitsgebiet verlangten, konfrontiert waren, die ohne Prüfung der Umstände des Einzelfalls von einem Mitgliedstaat faktisch geduldete Einreise in sein Hoheitsgebiet, die allein dem Zweck der Durchreise durch eben diesen Mitgliedstaat und der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat dienen sollte, als Gestattung der Einreise im Sinn des Art. 5 Abs. 4 lit. c Schengener Grenzkodex anzusehen?
Falls die Fragen 3.a) und 3.c) zu bejahen sind:
d) Führt die Gestattung der Einreise nach Art. 5 Abs. 4 lit. c Schengener Grenzkodex dazu, dass von einer einem Visum im Sinn des Art. 5 Abs. 1 lit. b Schengener Grenzkodex gleichzuhaltenden Erlaubnis und sohin von einem "Visum" gemäß Art. 2 lit. m Dublin III-Verordnung auszugehen ist, sodass bei der Anwendung der Bestimmungen zur Feststellung des zuständigen Mitgliedstaates nach der Dublin III-Verordnung auch deren Art. 12 zu berücksichtigen ist?
Falls die Fragen 3.a), 3.c) und 3.d) zu bejahen sind:
e) Ist im Hinblick auf die faktische Duldung der Einreise zum Zweck der Durchreise davon auszugehen, dass das "Visum" mit der Ausreise aus dem betreffenden Mitgliedstaat seine Gültigkeit verloren hat?
f) Ist im Hinblick auf die faktische Duldung der Einreise zum Zweck der Durchreise davon auszugehen, dass das "Visum" immer noch gültig ist, wenn die Ausreise aus dem betreffenden Mitgliedstaat noch nicht erfolgt ist, oder verliert das "Visum" ungeachtet der unterbliebenen Ausreise seine Gültigkeit zu jenem Zeitpunkt, in dem ein Antragsteller sein Vorhaben, in einen anderen Mitgliedstaat reisen zu wollen, endgültig aufgibt?
g) Führt die Aufgabe des Vorhabens durch den Antragsteller, in den ursprünglich als Ziel ins Auge gefassten Mitgliedstaat reisen zu wollen, dazu, dass im Sinn des Art. 12 Abs. 5 Dublin III-Verordnung von der Vornahme einer betrügerischen Handlung nach Ausstellung des "Visums" zu sprechen ist, sodass der das "Visum" ausstellende Mitgliedstaat nicht zuständig ist?
Falls die Fragen 3.a) und 3.c) zu bejahen, aber die Frage 3.d) zu verneinen ist:
h) Ist die in Art. 13 Abs. 1 Dublin III-Verordnung enthaltene Wendung "aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat" so zu verstehen, dass unter den angeführten besonderen Voraussetzungen der Ausgangsfälle der als Gestattung der Einreise im Sinn des Art. 5 Abs. 4 lit. c Schengener Grenzkodex zu qualifizierende Grenzübertritt nicht als illegales Überschreiten der Außengrenze anzusehen ist?