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Auf der Seite Vorabentscheidungsanträge an den EuGH werden jene Vorabentscheidungsersuchen angezeigt, über die der Gerichtshof der Europäischen Union noch nicht entschieden hat.

21.12.2023 Zuständigkeit einer vergaberechtlichen Nachprüfungsstelle bei einem Auftraggeber mit Anknüpfungspunkten zu verschiedenen Mitgliedstaaten

Ro 2021/04/0001-0004 (EU 2022/0012-0015) vom 21. Dezember 2023, C-480/22

Das dem Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegende Ausgangsverfahren betrifft ein Vergabeverfahren im Sektorenbereich (Energiesektor) für die Durchführung von Elektroninstallationsarbeiten samt damit verbundenen Bau- und Demontagearbeiten in Bulgarien. Leistungsgegenstand des Vergabeverfahrens ist ein Bauauftrag im Oberschwellenbereich (Auftragswert von mehr als 5 Millionen Euro). Dieser Auftrag war in 36 Lose aufgeteilt, wobei jedes Los jeweils ein Gebiet in Bulgarien betrifft. Als Sektorenauftraggeberin agiert ein Energieversorgungsunternehmen mit Sitz in Bulgarien (EY EAD). Als zentrale Beschaffungsstelle der Auftraggeberin fungiert ein Unternehmen mit Sitz in Österreich (EBS GmbH). Sie soll im Namen und auf Rechnung der bulgarischen Auftraggeberin EY EAD die entsprechenden Leistungen beschaffen. Dabei soll die Ausschreibung über die EBS GmbH erfolgen und der Vertrag über die Leistungen mit der EY EAD abgeschlossen werden. Sowohl die bulgarische Auftraggeberin, die EY EAD, als auch die zentrale Beschaffungsstelle, die EBS GmbH, stehen mittelbar zu 100% im Eigentum der E AG, an der wiederum das Land Niederösterreich mit 51 % die Mehrheit hält.

In der Ausschreibung wurde das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG) als zuständige Stelle für Rechtsmittel- bzw. Nachprüfungsverfahren angegeben. Es solle für das Vergabeverfahren österreichisches Recht gelten, für die "Vertragsabwicklung" bulgarisches Recht.

Zwei bulgarische Unternehmen legten im Vergabeverfahren jeweils für einzelne Lose ein Angebot, sie waren jedoch in keinem dieser Lose als Vertragspartner vorgesehen. Die zwei bulgarischen Unternehmen beantragten beim LVwG die Nichtigerklärung der Vergabeentscheidungen der Auftraggeberin betreffend jene Lose, zu denen sie zwar Angebote gelegt hatten, aber nicht zum Zug kommen sollten.

Das LVwG wies die Anträge der bulgarischen Unternehmen jeweils mit Beschluss wegen Unzuständigkeit zurück. Es ging im Wesentlichen davon aus, dass sich seine Zuständigkeit danach richte, wer Vertragspartner sei. Auftraggeberin sei die EY EAD mit Sitz in Bulgarien, die Beherrschung durch die österreichische E AG sei nicht maßgeblich. Alle Beteiligten sowie der Erfüllungsort seien in Bulgarien. Die in der Richtlinie 2014/25/EU (Sektorenrichtlinie) vorgesehene Kollisionsnorm Art. 57 Abs. 3 beziehe sich darüber hinaus nur auf das materielle Vergaberecht, nicht jedoch auf das für die Nachprüfung anwendbare Verfahrensrecht.

Sowohl die beiden nicht zum Zug gekommenen bulgarischen Unternehmen als auch die EBS GmbH erhoben dagegen Revisionen.

Für den VwGH sind im Verfahren mehrere Zweifel im Zusammenhang mit der Auslegung der Sektorenrichtlinie aufgekommen.

Art. 57 Abs. 3 der Sektorenrichtlinie schreibt vor, dass "die zentrale Beschaffung durch eine zentrale Beschaffungsstelle mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat gemäß den nationalen Bestimmungen des Mitgliedstaats, in dem die zentrale Beschaffungsstelle ihren Sitz hat" erfolgt.

Bei der EBS GmbH mit Sitz in Österreich handelt es sich um eine "zentrale Beschaffungsstelle". Die EY EAD hat zwar ihren Sitz in Bulgarien, wird aber wiederum über die E AG vom Land Niederösterreich kontrolliert. Voraussetzung für die Anwendung der in der Sektorenrichtlinie vorgesehenen Kollisionsnorm Art. 57 Abs. 3 ist, dass die zentrale Beschaffungsstelle ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat als der Auftraggeber. Für den VwGH ist im vorliegenden Fall fraglich, ob maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Zuordnung eines Auftraggebers zu einem (anderen) Mitgliedstaat dessen Sitz oder dessen Beherrschung, die einem Mitgliedstaat zugerechnet werden kann, ist (1. Frage).

Sollte Art. 57 Abs. 3 der Sektorenrichtlinie zur Anwendung kommen, stellt sich als weitere Frage, ob sich diese Bestimmung nur auf das materielle Vergaberecht bezieht oder auch auf das im Nachprüfungsverfahren anzuwendende Verfahrensrecht und ob sie somit auch die Zuständigkeit einer nationalen Nachprüfungsstelle im Sinne der Richtlinie 92/13/EWG regelt (2. Frage).

Im Fall, dass der EuGH die 1. Frage oder die 2. Frage verneint (keine Anwendung der Kollisionsnorm Art. 57 Abs. 3 Sektorenrichtlinie bzw. ein etwaiges Nachprüfungsverfahren ist von dieser Bestimmung nicht umfasst) bleibt offen, woran die Zuständigkeit einer nationalen Nachprüfungsstelle nach der Richtlinie 92/13/EWG anknüpft. Auch nach dieser Richtlinie bleibt für den VwGH offen, was der maßgebliche Anknüpfungspunkt für die Begründung der Zuständigkeit ist: der Sitz eines Auftraggebers oder dessen Beherrschung durch eine Gebietskörperschaft, die einem Mitgliedstaat zugeordnet werden kann (3. Frage).


Volltext des Beschlusses


Die Vorlagefragen im Wortlaut:

"1. Ist Art. 57 Abs. 3 der Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie-  und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG dahingehend auszulegen, dass eine zentrale Beschaffung durch eine zentrale Beschaffungsstelle mit Sitz „in einem anderen Mitgliedstaat“ dann vorliegt, wenn der Auftraggeber - unabhängig von der Frage der Zurechnung der Beherrschung dieses Auftraggebers - seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als die zentrale Beschaffungsstelle hat?

2. Falls Frage 1 bejaht wird:

Erfasst die Kollisionsnorm des Art. 57 Abs. 3 der Richtlinie 2014/25/EU, wonach die „zentrale Beschaffung“ durch eine zentrale Beschaffungsstelle mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat gemäß den nationalen Bestimmungen des Mitgliedstaats erfolgt, in dem die zentrale Beschaffungsstelle ihren Sitz hat, auch die Rechtsvorschriften für Nachprüfungsverfahren und die Zuständigkeit der Nachprüfungsstelle im Sinn der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-,  Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor?

3. Falls Frage 1 oder Frage 2 verneint wird:

Ist die Richtlinie 92/13/EWG und insbesondere ihr Art. 1 Abs. 1 vierter Unterabsatz dahingehend auszulegen, dass die Zuständigkeit einer nationalen Nachprüfungsstelle zur Nachprüfung von Entscheidungen der Auftraggeber alle Auftraggeber erfassen muss, die ihren Sitz im Mitgliedstaat der Nachprüfungsstelle haben, oder hat sich die Zuständigkeit danach zu richten, ob der beherrschende Einfluss über den Auftraggeber (im Sinn des Art. 3 Z 4 lit. c bzw. des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/25/EU) von einer Gebietskörperschaft bzw. einer Einrichtung des öffentlichen Rechts ausgeht, die dem Mitgliedstaat der Nachprüfungsstelle zuzuordnen ist?"

Mit Urteil vom 23. November 2023, C-480/22, antwortete der EuGH wie folgt:

1. Art. 57 Abs. 3 der Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG
ist dahin auszulegen, dass
eine zentrale Beschaffung im Rahmen der gemeinsamen Auftragsvergabe durch Auftraggeber aus verschiedenen Mitgliedstaaten von einer zentralen Beschaffungsstelle „mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat“ durchgeführt wird, wenn der Auftraggeber seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Sitzes der zentralen Beschaffungsstelle hat, gegebenenfalls auch unabhängig vom Sitz einer dritten Stelle, die den Auftraggeber oder die zentrale Beschaffungsstelle beherrscht.

2. Art. 57 Abs. 3 der Richtlinie 2014/25 ist im Licht der Erwägungsgründe 78 und 82 dieser Richtlinie
dahin auszulegen, dass
sich die in dieser Bestimmung verankerte Kollisionsnorm, wonach die zentralen Beschaffungstätigkeiten einer zentralen Beschaffungsstelle gemäß den nationalen Bestimmungen des Mitgliedstaats, in dem diese zentrale Beschaffungsstelle ihren Sitz hat, erfolgen, auf Nachprüfungsverfahren im Sinne der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor in der Fassung der Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe erstreckt, die diese Tätigkeiten betreffen, soweit diese zentrale Beschaffungsstelle das Vergabeverfahren durchgeführt hat.

Weil nach der Rechtsprechung des EuGH die Kollissionsnorm somit zur Anwendung kommt und auch Nachprüfungsverfahren davon betroffen sind. Zuständig zur Nachprüfung ist somit das LVwG Niederösterreich, welches seine Zuständigkeit zu Unrecht verneint hatte.

Der VwGH hob die angefochtene Entscheidung mit Erkenntnis vom 21. Dezember 2023 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit auf.