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Auf der Seite Vorabentscheidungsanträge an den EuGH werden jene Vorabentscheidungsersuchen angezeigt, über die der Gerichtshof der Europäischen Union noch nicht entschieden hat.

09.09.2021 Mögliches Vorbringen bei Folgeanträgen auf internationalen Schutz

Ro 2019/14/0006 (EU 2019/0008) vom 18. Dezember 2019, C-18/20

Nach österreichischem Recht kann eine rechtskräftig entschiedene Sache nicht neuerlich entschieden werden. Stellt ein Antragsteller in derselben Sache einen neuerlichen Antrag, ist eine inhaltliche Entscheidung darüber auch dann ausgeschlossen, wenn die Tatsachen und Beweismitteln, auf die sich der Antragsteller beruft, schon vor Abschluss des Erstverfahrens bestanden haben. In so einem Fall kann ein Antragsteller nur die Wiederaufnahme des früheren Verfahrens begehren.

Diese Rechtslage gilt auch für wiederholte Anträge auf internationalen Schutz (sog. Folgeanträge). Das österreichische Asylrecht enthält insoweit keine Sonderregelungen.

Der Verwaltungsgerichtshof möchte vom Gerichtshof der Europäischen Union wissen, ob diese Rechtslage den Vorgaben der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie), die verfahrensrechtliche Vorschriften für die Zuerkennung von internationalem Schutz enthält, entspricht.

Die Vorlagefragen im Wortlaut:

1. Erfassen die in Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), im Weiteren: Verfahrensrichtlinie, enthaltenen Wendungen "neue Elemente oder Erkenntnisse", die "zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind", auch solche Umstände, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens vorhanden waren?

Falls Frage 1. bejaht wird: 

2. Ist es in jenem Fall, in dem neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im früheren Verfahren ohne Verschulden des Fremden nicht geltend gemacht werden konnten, ausreichend, dass es einem Asylwerber ermöglicht wird, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen früheren Verfahrens verlangen zu können?

3. Darf die Behörde, wenn den Asylwerber ein Verschulden daran trifft, dass er das Vorbringen zu den neu geltend gemachten Gründen nicht bereits im früheren Asylverfahren erstattet hat, die inhaltliche Prüfung eines Folgeantrages infolge einer nationalen Norm, die einen im Verwaltungsverfahren allgemein geltenden Grundsatz festlegt, ablehnen, obwohl der Mitgliedstaat mangels Erlassung von Sondernormen die Vorschriften des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 Verfahrensrichtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt und infolge dessen auch nicht ausdrücklich von der in Art. 40 Abs. 4 Verfahrensrichtlinie eingeräumten Möglichkeit, eine Ausnahme von der inhaltlichen Prüfung des Folgeantrages vorsehen zu dürfen, Gebrauch gemacht hat?

Volltext des Beschlusses

Dieses Vorabentscheidungsersuchen wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 9. September 2021, C-18/20, beantwortet:

Auf die erste Frage antwortete der EuGH, dass Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die Wendung "neue Elemente oder Erkenntnisse", die "zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind", im Sinne dieser Bestimmung sowohl Elemente oder Erkenntnisse, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, als auch Elemente oder Erkenntnisse umfasst, die bereits vor Abschluss des Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller nicht geltend gemacht wurden.

Auf die zweite Frage antwortete er, dass Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die Prüfung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz in der Sache im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den ersten Antrag vorgenommen werden kann, sofern die auf diese Wiederaufnahme anwendbaren Vorschriften mit Kapitel II der Richtlinie 2013/32 im Einklang stehen und für die Stellung dieses Antrags keine Ausschlussfristen gelten.

Schließlich beantwortete der EuGH die dritte Frage dahingehend, dass Art. 40 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondernormen zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, nicht gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden.

Mit Entscheidung vom 19. Oktober 2021, Ro 2019/14/0006 wurde die angefochtene Entscheidung, soweit sie die Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache bestätigte, vom VwGH aufgehoben.