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20.05.2022 : Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO: Ist auch eine Unterbringung als "Inhaftierung" zu verstehen?
Ro 2020/21/0008 (EU 2021/0001) vom 25. März 2021, C-231/21
Volltext des Beschlusses
Im Ausgangsverfahren stellte ein Asylwerber im Oktober 2016 zunächst einen Asylantrag in Italien und schließlich im Februar 2017 einen weiteren Asylantrag in Österreich.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) stellte nach Durchführung eines Konsultationsverfahrens am 1. März 2017 ein Aufnahmeersuchen an Italien nach der Dublin-III-VO. Dieses Ersuchen blieb für zwei Monate unbeantwortet, weshalb das BFA den italienischen Behörden mitteilte, dass dadurch Italien nach der Dublin-III-VO der Aufnahme des Asylwerbers zugestimmt und die Überstellungsfrist am 2. Mai 2017 zu laufen begonnen habe (vorläufiges Ende der nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO sechsmonatigen Überstellungsfrist: 2. November 2017). Das BFA wies in weiterer Folge den Asylantrag aufgrund der Zuständigkeit Italiens zurück und ordnete die Außerlandesbringung des Asylwerbers an.
Am 23. Oktober 2017 war eine Überstellung des Asylwerbers nach Italien vorgesehen. Diese konnte jedoch nicht durchgeführt werden, weil der Asylwerber seit 6. Oktober 2017 in der psychiatrischen Abteilung eines Krankhauses - gegen seinen Willen - untergebracht war. Diese Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz wurde von einem Gericht für zulässig erklärt. Die Unterbringung war von 6. Oktober 2017 bis zum 17. November 2017 vorgesehen. Noch im Oktober 2017 (somit vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist) teilte das BFA den italienischen Behörden mit, dass sich die Überstellungsfrist aufgrund der Unterbringung des Asylwerbers gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO auf zwölf Monate verlängert habe. Aus Sicht des BFA handelte es sich bei der Unterbringung um eine Inhaftierung iSd Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO, welche eine solche Verlängerung rechtfertige. Die Unterbringung endete tatsächlich am 4. November 2017.
Am 6. Dezember 2017 wurde der Asylwerber nach Italien überstellt.
Eine vom Asylwerber gegen die Überstellung erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen. Der Asylwerber erhob dagegen Revision.
Für den VwGH stellt sich hier zur Überprüfung, ob die Überstellung des Asylwerbers am 6. Dezember 2017 nach der Dublin-III-VO (noch) rechtzeitig und somit rechtmäßig erfolgte, die Frage, ob unter einer "Inhaftierung" nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO auch eine Unterbringung wegen psychischer Erkrankung gegen oder ohne den Willen der betroffenen Person, die von einem Gericht für zulässig erklärt worden ist, zu verstehen ist. Sollte der EuGH dies bejahen, stellt sich weiters die Frage, ob im Falle einer Inhaftierung einer zu überstellenden Person die Überstellungsfrist jedenfalls auf ein Jahr verlängert wird bzw. wenn nicht, um welchen Zeitraum sich die Überstellungsfrist verlängert (nur um die tatsächliche Unterbringungsdauer oder um die dem Aufnahmestaat mitgeteilte vorgesehene Unterbringungsdauer).
Mit Urteil vom 31. März 2022, C-231/21, hat der EuGH in dieser Angelegenheit entschieden. Er hielt fest, dass die Dublin-III-VO dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff "Inhaftierung" nicht anwendbar ist, wenn ein Asylbewerber zwangsweise mit gerichtlicher Genehmigung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht wird, weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung eine erhebliche Gefahr für sich selbst oder für die Gesellschaft darstellt.
Die Vorlagefragen im Wortlaut:
1. Ist unter einer Inhaftierung im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. 2013, L 180, 31, auch eine von einem Gericht für zulässig erklärte Unterbringung des Betroffenen in der psychiatrischen Abteilung einer Krankenanstalt gegen oder ohne seinen Willen (hier aufgrund einer sich aus seiner psychischen Erkrankung ergebenden Eigen‑ und Fremdgefährdung) zu verstehen?
2. Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:
a) Kann ‑ mit Bindung für den Betroffenen ‑ die Frist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der eben genannten Verordnung im Fall einer Inhaftierung durch den ersuchenden Mitgliedstaat jedenfalls auf ein Jahr verlängert werden?
b) Wenn nein, um welchen Zeitraum ist eine Verlängerung zulässig, etwa nur um jenen Zeitraum,
aa) den die Inhaftierung tatsächlich dauerte, oder
bb) den die Inhaftierung, bezogen auf den Zeitpunkt der Unterrichtung des zuständigen Mitgliedstaats nach Art. 9 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Jänner 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1) geänderten Fassung, voraussichtlich insgesamt dauern wird,
allenfalls jeweils zuzüglich einer angemessenen Frist für die neuerliche Organisation der Überstellung?
Dieses Vorabentscheidungsersuchen wurde vom Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 31. März 2022, C-231/21, beantwortet:
"Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [...] ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff ‚Inhaftierung‘ nicht anwendbar ist, wenn ein Asylbewerber zwangsweise mit gerichtlicher Genehmigung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht wird, weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung eine erhebliche Gefahr für sich selbst oder für die Gesellschaft darstellt."
Weil die sechsmonatige Überstellungsfrist aufgrund der Unterbringung des Asylwerbers nicht verlängert wurde, war diese zum Zeitpunkt der Abschiebung bereits abgelaufen. Die Abschiebung erfolgte daher zu Unrecht weswegen der VwGH die angefochtene Entscheidung aufhob.
Volltext der Entscheidung