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Frühere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union können im Archiv eingesehen werden.

5.11.2024 StatusRL: Ist die nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan für Frauen herrschende Situation als asylrechtlich relevante Verfolgung von Frauen einzustufen?

Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028 (EU 2022/0016 und EU 2022/0017) jeweils vom 14. September 2022, C-608/22 und C-609/22

Die den Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegenden Verfahren vor dem VwGH betreffen eine erwachsene afghanische Frau sowie ein 14‑jähriges afghanisches Mädchen. Beide hatten in Österreich Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Ihnen wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zwar subsidiärer Schutz, nicht aber Asyl gewährt. Sie erhoben gegen die Versagung von Asyl Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und brachten (unter anderem) vor, aufgrund der im Sommer 2021 erfolgten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan habe sich dort die Lage derart geändert, dass ihnen allein schon deswegen, weil sie afghanische Frauen seien, Verfolgung drohe und ihnen daher Asyl zu gewähren sei. Das BVwG wies beide Beschwerden ab. Dagegen wendeten sich die Revisionswerberinnen an den VwGH.

Der VwGH erachtete es in den Revisionsverfahren für geboten, zur Klärung der unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL an den EuGH heranzutreten.

Zunächst verwies der VwGH auf seine Rechtsprechung zur Lage von afghanischen Frauen unter der früheren "Taliban-Herrschaft" (1996-2001). Darin hielt er fest, dass die Summe der Eingriffe in die Lebensbedingungen der afghanischen Frauen in ihrer Gesamtheit als derart gravierend einzustufen waren, dass allein schon deswegen von Verfolgung im Sinn der GFK von Frauen auszugehen war. Es kam nach dieser Rechtsprechung nicht darauf an, ob von den Frauen ein Zuwiderhandeln gegen die Vorgaben der Taliban zu erwarten war, und auch nicht darauf, ob im Fall des Zuwiderhandelns (zusätzliche) Unverhältnismäßigkeiten zu gewärtigen waren.

Diese Rechtsprechung erging jedoch zu einer Zeit als gemeinschaftsrechtliche und (später) unionsrechtliche Vorgaben (noch) nicht existiert hatten. In diesem Sinn hat der VwGH bereits kürzlich darauf hingewiesen, dass diese frühere Rechtsprechung zu einer anderen Sach- und Rechtslage ergangen sei.

In den vorliegenden Fällen ist bei der Prüfung der Frage, ob den Revisionswerberinnen der Status der Asylberechtigten hätte zuerkannt werden müssen, nunmehr im Besonderen auf Art. 9 Abs. 1 lit. b StatusRL Bedacht zu nehmen. Wie diese Vorschrift auszulegen ist, ist Inhalt der vom VwGH dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen.

Dabei ist klärungsbedürftig, ob die von den Taliban gegenüber Frauen eingeführten Einschränkungen in ihrer Gesamtbetrachtung eine Kumulierung von Maßnahmen darstellt, sodass sich daraus eine solche schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. a StatusRL (auf den die lit. b verweist) ergibt, dass allein schon deswegen von Verfolgung von Frauen zu sprechen ist, weil sich eine Frau in ein solches Leben zu fügen hat (Frage 1.).

Weiters möchte der VwGH wissen, ob es in diesem Zusammenhang für die Zuerkennung von Asyl ausreichend ist, dass die Asylwerberin von den Maßnahmen allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist (weil sie diese zu beachten hat), oder ob bei der Beurteilung eine Prüfung der individuellen Situation der konkreten Asylwerberin vorzunehmen ist (ob und inwieweit sie von den Maßnahmen zudem auch selbst konkret betroffen ist; Frage 2.).

Die Beschlüsse, jeweils im Volltext:

Die Vorlagefragen im Wortlaut

1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

  • die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
  • keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
  • allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
  • einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
  • der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
  • der Zugang zu Bildung ‑ gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) ‑ verwehrt wird,
  • sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
  • ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
  • keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen ‑ in ihrer Kumulierung zu betrachtenden ‑ Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?

Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C-608/22 und C609/22, hat der EuGH wie folgt geantwortet

1. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass

unter den Begriff „Verfolgungshandlung“ eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem „Akteur, von dem Verfolgung ausgeht“, im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.

2. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass

er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.

Mit den Erkenntnissen je vom 23. Oktober 2024 zu Ra 2021/20/0425 sowie zu Ra 2022/20/0028, wurden die angefochtenen Entscheidungen des BVwG vom VwGH aufgehoben. Der VwGH hielt im Sinn der vom EuGH geäußerten Ansicht fest, dass bereits deshalb nach den maßgeblichen asylrechtlichen Bestimmungen von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil die Summe der von den Taliban etablierten und gegen afghanische Frauen gerichteten Einschränkungen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führt, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

Es ist grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen Lebensweise aussetzen zu müssen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind. Ergibt sich anhand der sich sonst darbietenden Umstände des Einzelfalles, dass Gründe zur Annahme vorhanden sind, dass fallbezogen ein Bedürfnis nach Flüchtlingsschutz nicht besteht und die Antragstellung lediglich aus anderen (asylfremden) Motiven erfolgt ist, wird es aber bei der Prüfung, ob der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen ist, nicht sein Bewenden haben können, sich bloß auf die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat sowie der Staatsangehörigkeit und des Geschlechts der Asylwerberin zu beschränken.