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Frühere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union können im Archiv eingesehen werden.

25.07.2023 Ist bei der Aberkennung von Asyl wegen Straftaten eine Güterabwägung durchzuführen und darf gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, dessen Abschiebung für unzulässig erklärt wird, eine Rückkehrentscheidung erlassen werden?

Ra 2021/20/0246 (EU 2021/0007) vom 20. Oktober 2021, C-663/21

Im Ausgangsfall des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einem früher in Syrien beheimateten staatenlosen Fremden den Status des Asylberechtigten zu. Er wurde in Österreich straffällig, weshalb ihm das BFA aus diesem Grund den Schutzstatus wieder aberkannte und eine Rückkehrentscheidung erließ. Allerdings sprach es unter einem aus, dass die Abschiebung nach Syrien nicht zulässig sei. Letzteres wurde damit begründet, dass jene Gründe, die zur Zuerkennung von Asyl geführt hatten, immer noch gegeben seien.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hob den Bescheid des BFA auf. Das BVwG ging zwar davon aus, dass ein besonders schweres Verbrechen vorliege, der Asylberechtigte rechtskräftig verurteilt worden sei und er auch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Es müsse aber eine Güterabwägung vorgenommen werden, bei der die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung den Interessen des Schutzberechtigten am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat gegenübergestellt werden müssten. Diese Güterabwägung habe im vorliegenden Fall wegen der dem Asylberechtigten in Syrien drohenden Gefahren zu seinen Gunsten auszufallen. Der Asylstatus dürfe ihm daher nicht aberkannt werden.

Gegen diese Entscheidung erhob das BFA eine Amtsrevision. Die Behörde vertritt die Auffassung, es sei zum Schutz der Rechte des Fremden nicht erforderlich, ihm den Status des Asylberechtigten zu belassen. Es sei ausreichend, dass er auf andere Weise vor Abschiebung geschützt sei.

Für den VwGH stellt sich nunmehr die Frage, ob es nach der Statusrichtlinie geboten ist, eine Güterabwägung vorzunehmen, die dazu führen kann, dass dem Fremden ‑ ungeachtet dessen, dass er ohnedies nicht abgeschoben werden darf ‑ der Status des Asylberechtigten nicht aberkannt werden darf (1. Frage).

Eine weitere Frage steht im Zusammenhang mit der Rückführungsrichtlinie. Es ist ungeklärt, ob unter einer "wirksamen Rückkehrentscheidung" im Verständnis der Rechtsprechung des EuGH nur eine solche verstanden werden kann, die in absehbarer Zeit durchgesetzt werden kann. In einer früheren Entscheidung hielt der EuGH nämlich fest, dass es unzulässig ist, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn der Mitgliedstaat nicht beabsichtigt, der ihm nach der Richtlinie auferlegten Pflicht, wonach die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen innerhalb kürzester Frist vorzunehmen ist, nachzukommen (C-441/19).

Der VwGH möchte daher wissen, ob die nationale Rechtslage, wonach auch gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem der Schutzstatus aberkannt wird, eine Rückkehrentscheidung erlassen werden kann, obwohl gleichzeitig in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt wird, dass seine Abschiebung wegen des Refoulement-Verbots auf Dauer unzulässig ist (der Drittstaatsangehörige erhält infolge einer solchen Feststellung bloß den Status eines geduldeten Fremden), mit den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie in Einklang steht (2. Frage).

Die Vorlagefragen im Wortlaut:

1. Ist bei der Beurteilung, ob der einem Flüchtling von der zuständigen Behörde zuvor zuerkannte Status des Asylberechtigten aus dem in Art. 14 Abs. 4 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) genannten Grund aberkannt werden darf, eine Güterabwägung als eigenständiges Kriterium in der Form vorzunehmen, dass es für die Aberkennung erforderlich ist, dass die öffentlichen Interessen für die Rückführung die Interessen des Flüchtlings am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat überwiegen müssen, wobei dabei die Verwerflichkeit eines Verbrechens und die potentielle Gefahr für die Allgemeinheit den Schutzinteressen des Fremden - beinhaltend das Ausmaß und die Art der ihm drohenden Maßnahmen - gegenüberzustellen sind?

2. Stehen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, im Besonderen deren Art. 5, Art. 6, Art. 8 und Art. 9, einer nationalen Rechtslage entgegen, wonach gegen einen Drittstaatsangehörigen, dem sein bisheriges Aufenthaltsrecht als Flüchtling durch Aberkennung des Status des Asylberechtigten entzogen wird, selbst dann eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist, wenn bereits im Zeitpunkt der Erlassung der Rückkehrentscheidung feststeht, dass eine Abschiebung wegen des Verbotes des Refoulement auf unbestimmte Dauer nicht zulässig ist und dies auch in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt wird?

Volltext des Beschlusses

Mit Urteil vom 6. Juli 2023, C-663/21, hat der EuGH wie folgt geantwortet:

1. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist dahin auszulegen, dass
die Anwendung dieser Bestimmung von der Feststellung der zuständigen Behörde abhängt, dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft angesichts der Gefahr, die der betreffende Drittstaatsangehörige für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck muss die zuständige Behörde diese Gefahr gegen die Rechte abwägen, die nach der Richtlinie den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie erfüllen, ohne dass sie jedoch darüber hinaus prüfen müsste, ob das öffentliche Interesse an der Rückkehr dieses Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland in Anbetracht des Ausmaßes und der Art der Maßnahmen, denen er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, sein Interesse an der Aufrechterhaltung des internationalen Schutzes überwiegt.

2. Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger
ist dahin auszulegen, dass
er dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist.

Das BVwG führte eine Güterabwägung durch, bei der die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung den Interessen des Schutzberechtigten am Weiterbestehen des Schutzes durch den Zufluchtsstaat gegenübergestellt wurden. Eine derartige Güterabwägung ist jedoch nicht im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Aberkennung vorzunehmen. Der entsprechende Spruchpunkt im Bescheid hätte daher durch das BVwG nicht aufgehoben werden dürfen.
Die Rückkehrentscheidung wurde vom BVwG jedoch zu Recht aufgehoben.

Im fortgesetzten Verfahren hob der VwGH die angefochtene Entscheidung mit Erkenntnis vom 25. Juli 2023, Ra 2021/20/0246, daher zum einen Teil auf und wies die Revision zum anderen Teil ab.