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Frühere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union können im Archiv eingesehen werden.

13.04.2023 Wann liegt eine „soziale Gruppe“ im Sinn des Art. 10 Statusrichtlinie vor?

Ra 2022/20/0289 (EU 2023/0001) vom 28. März 2023, C-217/23

Ein afghanischer Staatsangehöriger stellte einen Antrag auf internationalen Schutz (Antragsteller). Er brachte vor, sein Vater und dessen Cousins hätten in Afghanistan eine Grundstücksstreitigkeit gehabt. Der Vater und ein Bruder des Mitbeteiligten seien im Zuge dieser Streitigkeit bereits von den Cousins des Vaters getötet worden. Diese Cousins trachteten auch dem Mitbeteiligten im Rahmen der durch die Grundstücksstreitigkeit ausgelösten Blutfehde nach dem Leben. Schutz von staatlicher Seite werde ihm nicht zuteil. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), das das Vorbringen zu einer Verfolgung als unglaubwürdig ansah, gewährte dem Antragsteller zwar (wegen der allgemeinen Verhältnisse in Afghanistan) subsidiären Schutz, nicht aber Asyl.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), das der Antragsteller wegen der Versagung von Asyl mit Beschwerde angerufen hatte, erachtete hingegen die Angaben des Antragstellers als glaubwürdig, gab der Beschwerde Folge und erkannte dem Antragsteller einen Asylstatus zu. In der Begründung für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ging das BVwG davon aus, dass er allein deswegen von den Cousins verfolgt werde, weil ihn diese als Sohn - also als Familienmitglied - seines (verstorbenen) Vaters in die Blutfehde verstrickt sehen und an ihm Blutrache üben wollen. Es liege daher die für die Asylgewährung notwendige Anknüpfung an einen in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Grund, nämlich eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer "sozialen Gruppe", die hier in der Familie zu sehen sei, vor.

Dagegen wendet sich die vom BFA erhobene Revision, in der geltend gemacht wird, es sei nicht geklärt, ob angesichts der unionsrechtlichen Vorgaben die Familie als "soziale Gruppe" im Sinn der asylrechtlichen Bestimmungen anzusehen sei.

Der VwGH erachtete es im Revisionsverfahren für geboten, zur Klärung dieser Frage an den Gerichtshof der Europäischen Union mit einem Ersuchen um Vorabentscheidung heranzutreten.

Zunächst verwies der VwGH auf internationale Literatur und Rechtsprechung, aus denen sich ergibt, dass die Frage, ob die Familie als "soziale Gruppe" im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie qualifiziert werde, zu den strittigen Auslegungsfragen gehöre und diese Frage in europäischen Staaten bereits unterschiedlich gelöst worden sei.

Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie sieht (unter anderem) vor, dass die Gruppe, um als "soziale Gruppe" zu gelten, in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität haben muss, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Es ist für die Lösung des Revisionsfalls im Besonderen von Bedeutung, unter welchen Voraussetzungen davon gesprochen werden kann, dass eine Gruppe in dem betreffenden Land im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie eine "deutlich abgegrenzte Identität" hat. Weiters ist klärungsbedürftig, nach welchen Gesichtspunkten sich die eine Gruppe "umgebende Gesellschaft" bestimmt und wann von dieser Gesellschaft eine Gruppe als "andersartig" betrachtet wird. In der Statusrichtlinie werden nämlich die vom Unionsgesetzgeber verwendeten Begrifflichkeiten weder definiert noch wird darin näher festgelegt, wonach sich die Prüfung richten soll.

Dabei ist in einem ersten Schritt zu klären, ob manche der in Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie genannten Voraussetzungen zueinander in einem Kausalitätsverhältnis stehen, und - falls dies nicht der Fall sein sollte - nach welchen Kriterien das Vorliegen einer "deutlich abgegrenzten Identität" zu prüfen ist (Fragen 1. und 2.).

Weiters soll - in Anbetracht dessen, dass regelmäßig die Zugehörigkeit zu einer Familie für sich genommen keine Besonderheit darstellt - geklärt werden, ob bei der Bestimmung, ob eine Gruppe im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie "von der sie umgebenden Gesellschaft" als andersartig betrachtet wird, auf die Sicht des Verfolgers oder der Gesellschaft als Ganzes (oder eines wesentlichen Teiles der Gesellschaft) abzustellen ist, und nach welchen Kriterien die Prüfung der "Andersartigkeit" vorzunehmen ist (Fragen 3. und 4.).

Volltext des Beschlusses

Die Vorlagefragen im Wortlaut:

1. Ist die in Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) enthaltene Wendung „die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“ so auszulegen, dass in dem betreffenden Land eine Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität nur dann hat, wenn sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, oder ist es erforderlich, das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ eigenständig und losgelöst von der Frage, ob die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, zu prüfen?

Falls nach der Antwort auf Frage 1. das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ eigenständig zu prüfen ist:

2. Nach welchen Kriterien ist das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU zu prüfen?

Unabhängig von der Antwort auf die Fragen 1. und 2.:

3. Ist bei der Beurteilung, ob eine Gruppe im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU „von der sie umgebenden Gesellschaft“ als andersartig betrachtet wird, auf die Sicht des Verfolgers oder der Gesellschaft als Ganzes oder eines wesentlichen Teiles der Gesellschaft eines Landes oder eines Teiles des Landes abzustellen?

4. Nach welchen Kriterien richtet sich die Beurteilung, ob im Sinn des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU eine Gruppe als „andersartig“ betrachtet wird?