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Frühere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union können im Archiv eingesehen werden.

16.11.2023 Unterliegt das ORF‑Programmentgelt der Umsatzsteuer?

Ro 2020/15/0021 (EU 2022/0002) vom 16. November 2023, C-249/22

Im Ausgangsverfahren beantragte eine Rundfunkteilnehmerin bei der Gebühren Info Service GmbH (GIS) die Rückerstattung der ihrer Ansicht nach unionsrechtswidrig bezahlten Umsatzsteuer für das Programmentgelt mit der Begründung, dass die (Dienst-)Leistung des ORF unionsrechtlich nicht der Mehrwertsteuer unterliege. Die GIS wies diesen Antrag ab. Auch das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde ab.

In der Folge erhob die Rundfunkteilnehmerin Revision an den VwGH.

Die GIS hebt verschiedene Abgaben (u.a. die Rundfunkgebühr) für den Besitz eines Fernseh- oder Radioempfangsgerät sowie zusätzlich das ORF-Programmentgelt ein, wobei nur das ORF-Programmentgelt gemäß § 10 Abs. 2 Z 5 UStG 1994 der Umsatzsteuer zum ermäßigten Steuersatz von 10% unterzogen wird. Die Verpflichtung zur Bezahlung vom ORF-Programmentgelt knüpft dabei an die terrestrische Versorgung eines Standortes mit den Programmen des ORF an.

Nach dem in einem tschechischen Fall ergangenen Urteil des EuGH vom 22. Juni 2016, C-11/15, stellt die tschechische Rundfunkgebühr kein Entgelt für eine steuerbare Dienstleistung im Sinne der EU-Mehrwertsteuer-Richtlinie dar, weil kein umsatzsteuerlicher Leistungsaustausch vorliegt. Die Verpflichtung der Entrichtung der Rundfunkgebühr ergibt sich nach tschechischem Recht bloß aus dem Besitz eines Rundfunkempfangsgerätes.

Nach der österreichischen Rechtslage wird im Gegensatz dazu ein zivilrechtliches Vertragsverhältnis fingiert.

Der VwGH hat die Frage, ob das ORF-Programmentgelt ein Entgelt im Sinne der EU-Mehrwertsteuer-Richtlinie darstellt, dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, weil sie die Auslegung der EU-Mehrwertsteuer-Richtlinie betrifft. Nach dieser Richtlinie ist die Mehrwertsteuer-Pflicht nur gegeben, wenn ein Leistungsaustausch vorliegt.

Der VwGH spricht im Vorabentscheidungsersuchen zunächst von jenen Rundfunkteilnehmern, die ein entsprechendes Empfangs-Modul zur Entschlüsselung der ORF-Programme erworben haben, sowie jenen, die einen Vertrag mit einem Kabelfernsehanbieter abgeschlossen haben, um die ORF-Programme zu empfangen. Bei diesem Personenkreis könnte ein Rechtsverhältnis zwischen ORF und Rundfunkteilnehmer angenommen werden. Sodann geht der VwGH auf jene Rundfunkteilnehmer ein, die zwar über ein Rundfunkempfangsgerät verfügen, das aber mangels eines Empfangs-Moduls nicht die ORF-Programme darstellen kann. Ob auch bei letztgenanntem Personenkreis ein Vertragsverhältnis angenommen werden kann, ist nicht geklärt.

In der EU-Beitrittsakte wurde Österreich gestattet, die nach der EU-Mehrwertsteuer-Richtlinie an sich nicht steuerpflichtigen Tätigkeiten der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten im Rahmen weiterhin zu besteuern, und zwar zum ermäßigten MwSt-Satz. Nur soweit die Dienstleistungen des ORF der Mehrwertsteuerpflicht unterliegen, steht dem ORF der Vorsteuerabzug für seine Investitionen zu.

Für den VwGH stellt sich daher die Frage, wie die primärrechtliche Ausnahme in der EU‑Beitrittsakte, nach welcher Österreich die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten (zum ermäßigten Steuersatz) besteuern kann, bei der Interpretation der Mehrwertsteuersystemrichtlinie zu berücksichtigen ist.

Die Vorlagefragen im Wortlaut:

1. Ist ein Entgelt wie das österreichische ORF-Programmentgelt, das die öffentliche Rundfunkanstalt selber festsetzt, um ihren Betrieb zu finanzieren, unter Berücksichtigung der primärrechtlichen Bestimmung des Art. 151 Abs. 1 iVm Anhang XV Teil IX Nr. 2 Buchstabe h Unterabsatz 1 zweiter Gedankenstrich der Akte über die Beitrittsbedingungen und die Anpassungen der die Union begründenden Verträge (Abl. C 241 vom 29. August 1994, S 336) als Entgelt iSd Art 2 in Verbindung mit Art. 378 Nr. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem anzusehen?

2. Ist bei Bejahung der Frage 1 das dort genannte ORF-Programmentgelt auch insoweit als Entgelt iSd Richtlinie 2006/112/EG anzusehen, als Personen zu deren Entrichtung verpflichtet sind, die zwar ein Rundfunkempfangsgerät in einem Gebäude betreiben, das vom ORF mit seinen Programmen terrestrisch versorgt wird, diese Programme des ORF aber mangels eines erforderlichen Empfangsmoduls nicht empfangen können?

Der Beschluss im Volltext.

Mit Urteil vom 26. Oktober 2023, C-249/22, hat der EuGH wie folgt geantwortet:

Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 378 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Art. 151 Abs. 1 und Anhang XV Teil IX Nr. 2 Buchst. h Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge

sind wie folgt auszulegen:

Sie stehen nicht dem entgegen, dass die Republik Österreich eine Tätigkeit des öffentlichen Rundfunks der Mehrwertsteuer unterwirft, die durch eine gesetzliche Zwangsgebühr finanziert wird, die von jeder Person gezahlt wird, die eine Rundfunkempfangseinrichtung in einem Gebäude betreibt, das sich an einem Standort befindet, der von der betreffenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt mit ihren Programmen terrestrisch versorgt wird. Insoweit kann dahinstehen, ob die betreffende Tätigkeit des öffentlichen Rundfunks unter den Begriff der Dienstleistungen, die gegen Entgelt erbracht werden, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt.

In weiterer Folge hob der VwGH die angefochtene Enscheidung mit Erkenntnis vom 16. November 2023, Ro 2020/15/0021, auf.