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Frühere Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union können im Archiv eingesehen werden.

21.10.2024 Der Sozialversicherung welchen Staates unterliegt eine Person, die in einem EU-Mitgliedstaat, einem EWR-EFTA-Staat und der Schweiz erwerbstätig ist?

Ro 2022/08/0003 (EU 2023/0002) vom 9. Mai 2023, C-329/23

Dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen liegt die Frage zugrunde, welcher Staat für die Sozialversicherung einer Person zuständig ist, die in einem EU-Mitgliedstaat, einem EWR-EFTA-Staat und der Schweiz erwerbstätig ist. Im Ausgangsfall erzielte ein in Österreich lebender Arzt hier ca. 19 %, in Liechtenstein ca. 78 % und in der Schweiz ca. 3 % seines Einkommens. Ursprünglich war der Arzt nur in Österreich und Liechtenstein tätig, nahm aber in weiterer Folge auch die Tätigkeit in der Schweiz auf. Der Arzt beantragte bei der Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (SVS) die Ausstellung einer Bescheinigung ("A1") darüber, dass er der österreichischen Sozialversicherung unterliege (um von der Beitragspflicht der anderen Länder befreit zu werden).

Die SVS wies den Antrag des Arztes mit der Begründung ab, dass zwar jeweils für sich betrachtet die Verordnungen (VO) (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 (welche die mitgliedstaatlichen Systeme der sozialen Sicherheit koordinieren und u.a. auch die Ausstellung der beantragten Bescheinigung über das anwendbare Recht regeln) im Verhältnis (von Österreich) zu Liechtenstein aufgrund des EWR-Abkommens und im Verhältnis zur Schweiz aufgrund des Freizügigkeitsabkommens zwischen der EU und der Schweiz zur Anwendung kämen. Es fehle aber an einem "Dachabkommen" für eine europäische Koordinierung zwischen EU-Staaten, EWR-EFTA-Staaten und der Schweiz, weshalb die VO (EGNr. 883/2004 und Nr. 987/2009 in einer solchen trilateralen Konstellation nicht anwendbar seien. Es seien daher die Tätigkeiten des Arztes getrennt den Rechtsvorschriften von Österreich, Liechtenstein und der Schweiz zu unterstellen.

Der Arzt erhob dagegen eine Beschwerde, der das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) stattgab. Das BVwG ging davon aus, dass der Arzt auf Grund der VO (EGNr. 883/2004 sowohl hinsichtlich seiner Tätigkeit in Liechtenstein als auch in der Schweiz der österreichischen Sozialversicherung unterlegen sei, worüber auch dementsprechend jeweils Bescheinigungen auszustellen seien. Das BVwG begründete dies im Wesentlichen damit, dass es einer gesonderten Betrachtung der jeweiligen Verhältnisse bedürfe. Ein "Dachabkommen" sei nicht nötig. Die Aufnahme der Tätigkeit in der Schweiz wirke sich daher auch nicht auf die Beurteilung des Verhältnisses zu Liechtenstein aus.

Gegen die Entscheidung des BVwG erhob die SVS eine Revision.

Für den VwGH sind im Verfahren Zweifel daran entstanden, ob in einem Fall, in dem gleichzeitig Erwerbstätigkeiten in einem EU-Mitgliedstaat (hier: Österreich), in einem EWR-EFTA-Staat (hier: Liechtenstein) und in der Schweiz ausgeübt werden, die VO (EGNr. 883/2004 und Nr. 987/2009 anzuwenden sind (1. Frage). Sollten die VO anzuwenden sein, stellt sich als weitere Frage, ob die Verhältnisse jeweils gesondert zu beurteilen und daher auch zwei getrennte Bescheinigungen auszustellen sind oder ob eine Gesamtbetrachtung anzustellen ist, so wie es der Fall wäre, wenn es sich bei allen beteiligten Staaten um EU-Mitgliedstaaten handelte (2. Frage).

Darüber hinaus möchte der VwGH vom EuGH wissen, ob bzw. unter welchen näheren Voraussetzungen es sich um eine Änderung des "vorherrschenden Sachverhalts" im Sinne des Art. 87 Abs. 8 der VO (EGNr. 883/2004 handelt, wenn eine Erwerbstätigkeit in einem weiteren Staat (hier: in der Schweiz) aufgenommen wird. Art. 87 Abs. 8 der VO (EGNr. 883/2004 regelt als Übergangsbestimmung, dass die sich aus der VO (EWG) Nr. 1408/71 ergebende Zuständigkeit eines Mitgliedstaats auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit auch nach Inkrafttreten der VO (EGNr. 883/2004 aufrecht bleibt, dies aber nur, solange sich der vorherrschende Sachverhalt nicht ändert. Im Anlassfall wäre der Arzt ohne Anwendung dieser Übergangsbestimmung nicht den österreichischen, sondern den liechtensteinischen Vorschriften der sozialen Sicherheit unterlegen (3. Frage).

Volltext des Beschlusses

Die Vorlagefragen im Wortlaut:

 1. Sind auf einen Sachverhalt, in dem ein Unionsbürger gleichzeitig in einem EU-Mitgliedstaat, in einem EWR-EFTA-Staat (Liechtenstein) und in der Schweiz erwerbstätig ist, die unionsrechtlichen Normen über die Bestimmung des anwendbaren Rechts im Bereich der sozialen Sicherheit laut der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 iVm der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 anzuwenden?

Für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen ist:

2. Hat die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 iVm der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 in einem derartigen Fall so zu erfolgen, dass die Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit einerseits im Verhältnis zwischen dem EU-Mitgliedstaat und dem EWR-EFTA-Staat und andererseits im Verhältnis zwischen dem EU-Mitgliedstaat und der Schweiz getrennt zu beurteilen ist und dementsprechend jeweils eine gesonderte Bescheinigung betreffend die anwendbaren Rechtsvorschriften auszustellen ist?

3. Handelt es sich um eine Änderung des „vorherrschenden Sachverhalts“ im Sinn des Art. 87 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, wenn eine Erwerbstätigkeit in einem weiteren Staat, auf den die genannte Verordnung anwendbar ist, aufgenommen wird, auch wenn sich daraus weder nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 noch nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 eine Änderung der anwendbaren Rechtsvorschriften ergeben würde und die Tätigkeit in ihrem Umfang so untergeordnet ist, dass damit nur rund 3% des Gesamteinkommens erzielt werden?

Spielt es dabei eine Rolle, ob im Sinn der zweiten Frage die Koordinierung im bilateralen Verhältnis einerseits zwischen den bisher betroffenen Staaten und andererseits zwischen einem der bisher betroffenen Staaten und dem „weiteren“ Staat getrennt zu erfolgen hat?

Mit Urteil vom 26. September 2024, C-329/23, antwortete der EuGH wie folgt:

Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung, und die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in ihrer durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in ihrer durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung
sind dahin auszulegen, dass
sie nach dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 in der durch das Übereinkommen über die Beteiligung der Republik Bulgarien und Rumäniens am Europäischen Wirtschaftsraum geänderten Fassung und dem am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichneten Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit auf einen Sachverhalt Anwendung finden, in dem ein gleichzeitig in einem Mitgliedstaat der Union und einem Staat der Europäischen Freihandelsassoziation, der Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist, selbständig erwerbstätiger Unionsbürger in der Schweiz eine zusätzliche selbständige Erwerbstätigkeit aufnimmt. Nach den einschlägigen Bestimmungen dieser Verordnungen sind die anwendbaren Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit getrennt zu bestimmen, zum einen im Rahmen des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum und zum anderen im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit.

Mit Erkenntnis vom 15. Oktober 2024, Ro 2022/08/0003, hielt der VwGH fest, dass sich die Beurteilung des BVwG als richtig erweist; Das BVwG ging zu Recht davon aus, dass der Arzt sowohl hinsichtlich seiner Tätigkeit in Liechtenstein als auch in der Schweiz der österreichischen Sozialversicherung unterliegt, weshalb ihm auch eine einzige Bescheinigung über die Anwendbarkeit der österreichischen Rechtsvorschriften auszustellen ist.
Der VwGH wies die Revision daher ab.